Kerze die Eiswürfel auftaut

Die Entfroster-Funktion für kollektives Trauma

Kürzlich las ich einen Blogartikel von Ulrike Stockmann. Darin beschreibt sie ihre Wahrnehmung auf einem Kurztrip nach London und in den Tagen danach. Sie schreibt von der Stimmung der Leichtigkeit, die sie in London erlebt hat, und von der Schwere, die sie nach ihrer Rückkehr wieder eingeholt hat. Mein ABBA-Moment: Hoffnung schöpfen in London – DIE ACHSE DES GUTEN. ACHGUT.COM Einer der Kommentatoren zu diesem Artikel weist darauf hin, dass diese Wahrnehmung von Depression und Schwere (nur) von der eigenen Haltung abhinge.

Seit Jahren beobachte ich nun dieses Phänomen und habe viel darüber gelesen. Da wird ein kollektives Thema den einzelnen Menschen zugeschoben, die doch bitte ihre eigene Haltung ändern mögen. Und wenn der Entschluss nicht ausreiche, dann sollten sie sich eben noch therapeutisch unterstützen lassen.

Individuelle oder kollektive Verantwortung?

Ich frage mich: Liegt es wirklich (nur) in der Verantwortung von einzelnen Menschen, auf komplexe kollektive Themen ihre persönliche Antwort zu finden? Braucht es da nicht mehr? Eigene Antworten zu finden, finde ich gut und hilfreich und macht ja auch eine Demokratie aus. Gleichzeitig scheint mir, dass größere Themen, die über den Einflussbereich Einzelner hinausgehen, auf diese Weise nicht lösbar sind. Befassen sich Menschen mit ihrem persönlichen Puzzleteil, ergebt sich noch längst kein Gesamtbild. Dieses entsteht erst, wenn wir uns zusammentun und unsere Teile zusammenfügen – in dem Bewusstsein, dass es dieses größere Bild gibt und jedes Teil zum Ganzen dazugehört.

Seit mehreren Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Trauma. Anfangs eher als Zuschauerin. Später dann mehr und mehr als Beteiligte. Ich stieß auf das Thema Kriegskinder, das ich mit meinen Eltern in Verbindung brachte. Sie waren rund um das Jahr 2020 geboren worden und hatten ihre Jugend somit in der Struktur und Atmosphäre des „Dritten Reiches“ verbracht. Kurze Zeit später lernte ich den Begriff „Kriegsenkel“ kennen. Und verstand, dass ich selbst damit gemeint war. Zunächst war das mit der einfachen Erkenntnis verbunden, dass ich mit Eltern aufgewachsen war, deren Psyche – und Erzählungen – stark von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Zeit davor und danach geprägt waren.

Identität – authentisch, übernommen oder Überlebensmuster?

Mithilfe der Identitätsarbeit nach Prof. Franz Ruppert machte ich mich auf die Suche nach meiner eigenen Identität hinter der primären Erfahrung mit den psychisch teils abwesenden Eltern und ihren Geschichten aus dem Krieg. Wingwave Coaching half mir, belastende Glaubenssätze zu lösen, die in dieser primären Erfahrung entstanden waren. Mit der Prozessarbeit nach Arnold Mindell entdeckte ich einen neuen Zugang zur in mir brach liegenden Energie. Noch viel mehr als diese persönliche Spurensuche beeindruckte mich allerdings das wachsende Wissen, dass ich damit (nur) ein Teil einer größeren Geschichte bin und dass es galt, diese anzuschauen.

Spurensuche und größere Zusammenhänge

Autoren wie Stephan Marks mit seinem Buch „Warum folgten sie Hitler?“ brauchten mich auf ganz neue Gedanken und lieferten mir Antworten auf Fragen, die zuvor immer offen geblieben waren. Von Gedenktagen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg kannte ich die Aussage „Nie wieder!“ sehr gut. Allerdings fiel mir auf, dass es sehr wenige Antworten darauf gab, wie dann dieses „Nie wieder“ gehen könnte. Ich spürte auch, wie wenig Menschen sich bisher auf den Weg gemacht hatten, diesem Thema wirklich auf den Grund zu gehen. Aus der individuellen Traumaarbeit kannte ich das Prinzip Ungelöstes Trauma neigt zur Wiederholung. Überträgt man dieses Prinzip nun auf eine Gemeinschaft oder auf eine ganze Gesellschaft, wird schnell klar, welche Energie Krisen, gesellschaftliche Spaltung und Kriege nährt: Die des ungelösten kollektiven Traumas, das zur Wiederholung drängt. In seinem Buch „Wer bin ich in einer traumatisieren Gesellschaft?“ gibt Prof. Franz Ruppert Einblicke in dieses Thema. Auch das Buch „Gespaltene Wurzeln“ von Dr. Tanja Hetzer war für mich sehr aufschlussreich.

Trauma – eine enorme Leistung!

Diese Zusammenhänge sind hier natürlich extrem vereinfacht dargestellt. Mir ging es in erster Linie darum, das Grundprinzip darzustellen. Vielleicht fragt sich manche:r beim Lesen inzwischen, wo denn die positive Botschaft bleibt, die ich mit meinem Blog gerne vermitteln möchte. Wie kann das gehen, eine positive Botschaft zum Thema Trauma?

Dafür lohnt es sich, noch etwas genauer hinzuschauen. Trauma ist nicht das, was spontan oft darunter verstanden wird. Zunächst wird oft an schreckliche spontane Ereignisse gedacht: Ein Unfall, ein Todesfall, ein psychisches Schockerlebnis. In den letzten Jahren wurde die Definition von Trauma durch verschiedene Pioniere ausgeweitet und verfeinert und umfasst inzwischen auch das Bindungstrauma. Kein einmaliges Ereignis und dennoch massiv überfordernd mit entsprechenden Folgen. Wichtig ist auch zu wissen, dass Trauma nicht das Ereignis ist, das es auslöst, sondern die Reaktion darauf im Organismus.

Und an diesem Punkt beginnt die gute Nachricht: Trauma ist das Ergebnis einer enormen lebenswichtigen Fähigkeit unseres Nervensystems: In einer emotional überfordernden Situation schaltet es auf einen Überlebensmodus um, indem ein Teil der emotionalen Erfahrung ausgeblendet wird,. Das ist kein willentlicher Akt, sondern eine spontane Reaktion unseres Nervensystems auf eine als äußerst bedrohlich empfundene Situation. Einfach gesagt, ermöglicht unser Nervensystem uns, handlungsfähig zu bleiben, indem es einen Teil des emotionalen Empfindens abspaltet oder bildlich gesprochen „einfriert“. Zunächst geht es also um eine gesunde und kompetente Reaktion unseres Nervensystems auf eine außerordentliche Belastung. Das an sich wäre noch kein Problem, würden wir nicht an dieser Stelle wie in einer Endlosschleife hängen bleiben. Zum Trauma mit entsprechenden Folgen kommt es, wenn anschließend kein Auftauen stattfindet.

Was das Eis abtauen lässt

Durch den österreichischen Verein Pioneers of Change habe ich Thomas Hübl und seine Arbeit kennen gelernt. Er ist Pionier darin, kollektives Trauma und Achtsamkeit zu verbinden. Achtsamkeit ist die Übung der unabgelenkten Aufmerksamkeit, die ich hier Präsenz nennen möchte. Und Präsenz ist die Voraussetzung für die Lösung von Trauma, Präsenz wirkt wie ein Heizstrahler auf die eingefrorenen Bereiche. Wenn ich es recht bedenke, erscheint mir der Zusammenhang absolut logisch: Trauma ist eine (Überlebens-)Funktion des Nervensystems. Warum sollte das Nervensystem nicht genauso in der Lage sein, diesen Zustand, den es einmal herbeigeführt hat, wieder zu lösen?

Thomas Hübl bezeichnet kollektives Trauma als Permafrost in der Gesellschaft. Gelingt es uns nun, unseren Heizstrahler (= Präsenz) gemeinsam auf eingefrorene Bereiche unserer Gesellschaft zu richten, können diese beginnen aufzutauen.

Wozu auftauen? In diesen eingefrorenen Bereichen steckt jede Menge Energie. Wenn wir unsere Gesellschaft als einen Organismus verstehen, sind die gefrosteten Zonen starr und unbeweglich und tatsächlich kalt. Hier kann keine (emotionale) Wärme entstehen. Ganz im Gegenteil, es braucht Wärme, um hier wieder in Bewegung zu kommen. In den starren Zonen ist auch die Liebe zum Leben vielfach hängen geblieben und die Beziehung zur Natur, deren Teil wir sind.

Wie gesellschaftlicher Permafrost auf unsere Demokratie wirkt

Ich bin Demokratieentwicklerin. Ich wünsche mir Bewegung in unserer Demokratie. Mehr Wärme, die ermöglicht, aufeinander zuzugehen. Verbindung, die Räume schafft, in denen Zukunft gemeinsam gestaltet werden kann. Eine Kultur, die in der Lage ist, Abgespaltenes und Ausgegrenztes zu integrieren, zu einem größeren Ganzen.

Neuerdings kooperieren das Pocket Project von Thomas Hübl und der Verein Mehr Demokratie e.V. miteinander. Als ich das erfahren habe, war ich schlichtweg begeistert. Mir ist, als ob da nun Dinge zusammen kommen, die zusammen gehören. Ihr Anliegen ist, Räume zu schaffen, in denen der teils frostige Boden unserer Demokratie Schicht für Schicht aufgetaut werden kann.

Angst vor dem Vergangenen und der Gedanke „nie wieder“ werden uns nicht helfen, die Schrecken der Vergangenheit zu heilen und die Schatten zu lösen, die auf der deutschen Identität liegen. Wir brauchen eine Entfroster-Funktion, um die Schichten aufzutauen, die unsere Spielräume bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft massiv einengen. Diese Entfroster-Funktion können wir (nur) gemeinsam schaffen. Wir brauchen die gemeinsame achtsame Präsenz vieler, um das Leben an diesen Stellen (wieder) zum Fließen zu bringen. Ich sehe ein riesengroßes Potential in dieser Arbeit.

Die Entdeckung, worauf es ankommt

Es geht auch darum, eine neue Sprache zu finden. Denn wie verlockend klingt das, sich auf gemeinsame Trauma-Arbeit einzulassen? Klingt es nicht eher verlockend, sich im gemeinsamen Da-Sein zu üben, Räume zu schaffen, in denen wir Stück für Stück auftauen können? Denn der Schwerpunkt dieser Arbeit ist nicht (nur), in schreckliche Themen einzutauchen. Eher geht es darum. die Entfroster-Funktion gemeinsam zu üben und ein Gespür dafür zu entwickeln, worauf es im jeweiligen Moment ankommt. Und das Schöne ist: indem wir es (unter fachkundiger Anleitung) üben, findet es bereits statt. Diese Form von Präsenz kann nicht geübt werden, ohne dass sie da ist. Entfrosten stärkt die Präsenz. Diese wiederum unterstützt das Auftauen. Wenn wir also an einem solchen Raum beteiligt sind, sind wir Lernende, Unterstützende und Profitierende zugleich.

Die „Loop of Understanding“

Thoma Hübl arbeitet international, überwiegend in sehr großen Online-Formaten mit mehreren Hundert Teilnehmer:innen. Beim diesjährigen Sommer.Campus der Pioneers of Change durfte ich Daniel auf der Mauer kennenlernen. Er arbeitet in der Tradition von Thomas Hübl und hat das Verfahren „Loop of Understanding“ entwickelt, ein einfaches und sehr wirksames Werkzeug, um gemeinsam Präsenz zu üben und die kleinen eingefrorenen Stellen zu lösen, die sich in alltäglichen Begegnungen zeigen können.

Ich bleibe auf jeden Fall dran.

Mehr Infos unter https://thomashuebl.com/de/kollektives-trauma-und-demokratie-claudine-nierth/ https://www.aufdermauer.name/ https://pocketproject.org/
https://www.franz-ruppert.de/

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