Demokratie und die Kraft des Elefanten

Ich mag Weisheits-Geschichten. Sie inspirieren mich. Manche wurden schon über mehrere Generationen überliefert.

Warum erzähle ich das hier? Also – es geht um Demokratie. Ich könnte auch sagen: Es war einmal… vor langer Zeit… im alten Griechenland… eine Gruppe von Menschen. Sie hatten eine Vision… und lebten sie auch, so gut sie konnten, unter dem damals bestehenden Umständen. Welche Geschichten sie sich damals erzählt haben, weiß ich nicht. Auch ihre Vision kenne ich nicht. Was ich weiß: Sie haben einen Anfang gemacht. Mit diesen Menschen hat damals hat eine Geschichte begonnen, die – so fühlt es sich für mich an – noch lange nicht zu Ende ist. Vielleicht stehen wir heute an einem entscheidenden Punkt dieser Geschichte, die auch unsere Geschichte ist. Was kann helfen, wenn wir an entscheidenden Punkten in unserem Leben stehen – egal, ob als einzelner Mensch, als Gruppe, oder als ganze Gesellschaft? Weisheitsgeschichten können hilfreich sein. Texte und Erzählungen, aus denen zeitlose Weisheit spricht. Sie können uns berühren und uns helfen, die Richtung zu erspüren, in die der Pfad unserer Zukunft führt. Darum möchte ich hier nun einige Geschichten erzählen. Sie alle handeln von Elefanten.

Wenn ich gefragt werde, worin ich das größte Potential unserer Demokratie sehe, dann ist es dieses: Gemeinsam das Ganze sehen. Darum geht es in der ersten Geschichte.

Die Reisenden und der Elefant

Ein weiser Herrscher hatte fünf blinde Menschen ausgesandt, ein fernes Land zu besuchen und ihm vom Elefanten zu berichten, der dort lebte. Sie führten ihre Mission aus, kehrten zurück und fingen an zu berichten. Doch je mehr sie berichtet hatten, desto mehr gerieten sie in Streit. Denn die erste Person berichtete von einer haarigen Eigenschaft, ähnlich wie bei einem Pinsel. Die zweite berichtete von einer glatten Fläche, die sich geschmeidig der Berührung anpasste. Die dritte berichtete von einer säulenartigen Form, und so ging es weiter. Unmöglich konnten sie sich darauf einigen, was sie wahrgenommen hatten. Doch der weise Herrscher erkannte die Situation. Er lachte und machte sie darauf aufmerksam, dass sie alle nur einen Teil des Elefanten berührt hatten und mit so verschiedenen Berichten zurückkamen, weil sie das größere Ganze nicht sehen konnten. Er, der sehen konnte, verstand schnell, dass er nur die Teile zusammensetzen musste, um eine Vorstellung vom ganzen Elefanten zu bekommen.

Welchen Sinn brauchen wir Menschen, um eine Vorstellung von größeren Wesen zu bekommen – oder um die konkrete Form von komplexen Themen zu erkennen? Könnte das eine Art Gemein-Sinn sein, eine Weise, gemeinsam – als Kollektiv – etwas wahrzunehmen, die uns so noch nicht geläufig ist?

Was das für unsere Demokratie bedeutet: Ich finde, da geht es uns ähnlich wie den Blinden in der Geschichte. Wir erfassen mit unserer Wahrnehmung jeweils einen kleinen Teil des größeren Ganzen. Um das Ganze zu erfassen, braucht es viele Andere und das geschickte Zusammenfügen der Teile wie bei einem Puzzle. Wir haben es nicht ganz so leicht wie diese reisenden Menschen. Unsere Demokratie ist viel größer als ein Elefant, und zwischen den einzelnen Teilen gibt es viel komplexere Zusammenhänge. So gibt es auch nicht den einen weisen Menschen, der es komplett überblicken kann, sondern es braucht viele, um ein Gesamtbild zu bekommen. Gelingt es uns, gemeinsam zu „sehen“, und die Teile miteinander zu verbinden zu einem größeren Ganzen, können wir als Gruppe oder Gesellschaft uns selbst erkennen.

Der weiße Elefant im Raum

Einen Teil meiner beruflichen Laufbahn war ich als Mediatorin aktiv. Aus diese Zeit kenne ich das Symbol des Elefanten im Raum, manchmal auch des weißen Elefanten im Raum. Diese Redensart drückt aus, dass ein Thema im Raum ist und eigentlich sehr offensichtlich. Es ist spürbar, scheinbar zum Greifen nah, bleibt aber unsichtbar, weil es von niemandem ausgesprochen wird. So drehen sich die Gespräche und Planungen um alles Mögliche, nur nicht um das größte Thema im Raum. Es kann ein Tabuthema sein. Es kann mit Angst oder Scham verbunden sein. Oder es ist ein respektvolles Schweigen aus der Absicht heraus, niemanden zu verletzen. Das Thema kann auch so selbstverständlich sein, dass es nicht der Rede wert scheint. Vor allem Außenstehenden fällt dann auf, wie klar es doch eigentlich ist, wie wesentlich für die Gruppe der Anwesenden und wie naheliegend es wäre, dieses „graue Etwas“ zu benennen. Manchmal nehme ich solche „grauen Etwas“ wahr in unserer Demokratie. Sie sind zwar da und für manche von uns mehr oder weniger deutlich spürbar, vielleicht sogar offensichtlich. Und doch werden sie nicht benannt. Zumindest nicht wirklich.

Elefant im Porzellanladen

Manchmal ist genau das Gegenteil der Fall. Jemand benimmt sich wie der sprichwörtliche „Elefant im Porzellanladen“. Tatsächlich oder zumindest scheinbar ohne Rücksicht darauf, etwas zu zerstören, bewegt der Mensch sich im Raum – in Form von Worten – und richtet unabsehbaren Schaden an. Was für die Einen als wertvoll erachtet wird und vielleicht deshalb einen ganz besonderen Platz im Raum bekommen hat, wird von Anderen einfach sorglos zerstört. Und nicht nur einzelne Teile – nein, sehr viel. In dieser Geschichte kommt zusammen, was eigentlich nicht zusammenpasst: Das empfindliche Porzellan und der – vielleicht nicht einmal mit böser Absicht – sich im selben Raum bewegende Elefant, der dadurch viel Zerbrechliches zerstört.

In mir tauchen da einige Fragen auf. Dieses Porzellan – ist es wirklich noch so wertvoll oder halten wir es nur dafür, weil es früher einmal so war? Wer hat den Elefanten in diesen Raum gestellt?
Wo gibt es einen für ihn passenderen Raum, wo seine Kraft und seine Bewegungen sich als äußerst hilfreich und wertvoll erweisen könnten? Nicht umsonst wird in Indien der Gott mit dem Elefantenkopf Ganesha als Glücksbringer verehrt, der jedes Hindernis aus dem Weg räumen kann, egal ob materieller oder geistiger Natur.
Welche Hindernisse räumen in unserer Gesellschaft die „Elefanten“ aus dem Weg und machen ihn damit frei für etwas, das erst dann geschehen kann?

Die vier Wände eines Raumes können die Bewegungsfreiheit einschränken. Ein Stück Holz und eine Kette können das auch. Davon handelt die nächste Geschichte.

Der kleine Elefant und die Kette

In dieser Geschichte geht es um einen kleinen Jungen. Mit seinem Vater im Zirkus, sieht er einen Elefanten, der mit einer dünnen Kette an einen auch nicht viel dickeren Holzpflock gebunden ist. Der kleine Junge wundert sich, warum der große Elefant sich mit diesen doch sichtbar schwachen Mitteln an diesem Ort fixieren lässt, ohne dem etwas entgegenzusetzen. Für ihn ist so offensichtlich, dass der Elefant sich mit Leichtigkeit befreien könnte. Der Vater erklärt im daraufhin, dass der Elefant das nicht weiß, denn in seinem Inneren („Erinnerung“) hat er nach wie vor das Bild, wie er bereits als Baby-Elefant gelernt hatte, diese Kette zu respektieren, weil sie stärker war als er.

Haben wir das nicht auch als Kind so gelernt: Weiter als bis dahin kannst du dich nicht bewegen. Und gibt es nicht viele Momente auch in unserer Rolle als Bürger:in dieses Landes, wo wir diese Geschichte immer noch glauben, weil sie für uns als Kinder gestimmt hat und wir dazu noch existenziell abhängig waren von unseren Bezugspersonen? Manchmal wünsche ich mir, wir würden unsere heutige Größe erkennen und unseren entsprechend weiteren Bewegungsspielraum besser nutzen.

Feine Spürorgane

Elefanten haben große Ohren, die ihnen vor allem zum Temperaturausgleich dienen. Mit ihren besonders sensiblen Füßen und mit den feinfühligen Infraschall-Sensoren am Ende ihres Rüssels können sie eine drohende Gefahr durch Löwen und die von Artgenossen ausgesendeten Locksignale zur Paarung schon aus kilometerweiter Entfernung erspüren. Ihr Rüssel dient ihnen auch zum Senden solcher Signale, die mehr über den Boden als über die Luft übertragen werden. Halten sie ihren Rüssel auf den Boden, empfangen sie die für uns nicht hörbaren, für sie aber umso lauteren Signale.

Wo sind unsere feinen Spürorgane? Was hilft uns – abgesehen von technischen Lösungen, Signale von anderen Menschen aus größerer Entfernung zu empfangen? Was gibt es da zu entdecken und zu erforschen, das uns als Gesellschaft noch nicht bewusst ist? Vielleicht ist es auch bei uns an der Zeit, uns auf die Suche nach niedrigeren Frequenzen zu begeben? Manchmal begegnet mir dafür der Begriff Langsamkeit. Ich beginne, ihn zu entdecken in Räumen, wo wir uns Zeit nehmen, einander zu lauschen. Aus dem Herzen sprechen. Das Herz oder sogar das ganze Nervensystem weit geöffnet, um die feinen Signale zu empfangen, die da ausgesendet werden aus der Tiefe, die in uns Menschen darauf wartet, dass wir uns ihr zuwenden.

Resumée und Ausblick

Das feine Spüren, das gemeinsame Wahrnehmen, das Auflösen von Hindernissen – ich denke, all das kann uns helfen, Antworten zu finden auf die Herausforderungen, die die heutige Zeit für uns bereit hält. Werden wir als Gesellschaft den Mut haben, uns auf so ungewohnte Schritte und unvertrautes Terrain einzulassen – um unserer Zukunft und für die, die nach uns kommen? Ist das Porzellan wirklich so wertvoll, dass es uns davon abhalten kann, den weißen Elefanten zu befreien und uns seine wahre Größe bewusst zu machen? Was ist möglich, wenn wir die Verbindungen vertiefen die uns erlauben uns als etwas größeres Ganzes zu begreifen, als ein WIR, das mehr ist als die Summe der einzelnen ICHs? Ich freue mich darauf.

Haben diese Zeilen dich inspiriert? Magst du mit auf diese Reise gehen? Und kennst du vielleicht noch andere Menschen, denen du davon erzählen magst? Wir werden viele Menschen brauchen, um den ganzen „Elefanten“ zu „sehen“. Aber jeder einzelne zählt, auch wenn es zunächst noch nicht so viele sind.

Quellen
https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/tiersprache-elefanten-kommunizieren-ueber-infraschall
https://www.wissenschaft.de/erde-umwelt/elefanten-hoeren-genau-hin/
https://www.welt.de/wissenschaft/article927376/Elefanten-hoeren-auch-mit-den-Fuessen.html
Buch „Komm, ich erzähle dir eine Geschichte“ (Jorge Bucay)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Elefant_im_Raum