Ein Leitfaden für die persönliche Wahlentscheidung
Nein, ich werde hier keine Empfehlungen für oder gegen bestimmte Parteien aussprechen. Ich werde auch keine strategischen Hinweise aussprechen, welche Partei für welches Anliegen an besten geeignet sein könnte, ob man besser große oder kleine Parteien wählen sollte, oder Ähnliches.
Die häufigste Wahlempfehlung, die ich seit Jahrzehnten höre, lautet, man müsse das geringere Übel wählen. Traurig aber wahr: Seit Jahrzenten hat sich daran nichts geändert, wie mir eine junge Frau in einem Gespräch neulich bestätigte. Doch wie kann man das Beste draus machen und, wenn man es gerne genau nimmt (so wie ich), feststellen, was für einen selbst tatsächlich das geringere Übel ist?
Ich werde hier meine Erfahrung mit einer Methode teilen, die helfen kann, eine engere Wahl – die für dich „geringeren Übel“ – zu finden aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Das gibt innere Sicherheit, und mit einem kleinen Trick auch tatsächlich ein besseres Gefühl. So zumindest meine Erfahrung.
Praktischerweise funktioniert ein Werkzeug, das ich ohnehin gern benutze, das Systemische Konsensieren, gerade für ein solches Anliegen ganz gut.
Ich beschreibe hier eine einfache Variante, die ich für mich selbst auch so durchgespielt habe. Du könntest das noch weiter differenzieren und pro Partei z.B. verschiedene Aspekte definieren. Das werde ich weiter unten noch konkreter beschreiben.
Und nun geht’s los. Am besten gehst du schriftlich durch die Schritte, damit das Ganze übersichtlich bleibt.
Mit Systemischem Konsensieren den „Grad des Übels“ ermitteln
Im ersten Schritt lade ich dich zu einer vorbereitenden Frage ein:
- Was sind deine Wünsche an eine gute Lösung?
Damit bekommst du für dich eine erste (innere) Orientierung, in welche Richtung es gehen könnte. Darauf kannst du dich später bei deiner Bewertung beziehen.
Im aktuellen Fall (Wahl zum Europaparlament im Juni 2024) sind alle zur Verfügung stehenden Optionen bereits vorgegeben. Das sind über 30. Du hast genau EINE Stimme und darfst entscheiden, welcher Partei du sie gibst. Ansonsten kannst du auch noch entscheiden, ob du überhaupt wählst oder ob du es sein lässt. Dieses kleine Experiment hier kann dir helfen, deine Entscheidung gut vorzubereiten.
Jetzt geht es erst einmal um eine grobe Eingrenzung. Magst du alle Optionen bewerten, oder ist es dir wichtig, eine Vorauswahl zu treffen, damit die Auswahl überschaubarer wird? Dafür könntest du z.B. den Wahl-o-mat nutzen und die ersten 10 Parteien – oder eine Anzahl, die für dich passt – genauer anschauen.
- Welche Parteien magst du bewerten?
Wie ich an dieser Stelle vorgegangen bin: Ich habe mir zuerst überlegt, welche Parteien für mich grundsätzlich in Frage kommen. Dann habe ich den Wahl-o-mat befragt und noch einige Parteien mit einbezogen, die ich vorher nicht im Blick hatte.
Nehmen wir einmal an, du hast eine Vorauswahl getroffen, die noch 12 Parteien enthält.
Die Vorauswahl bewerten
Jetzt lade ich dich zu einer Bewertungsrunde ein. Und zwar geht es um eine Einschätzung, wieviel für dich GEGEN die einzelnen Optionen spricht:
- Wie hoch ist dein Widerstand gegen jede einzelne zur Verfügung stehende Option?
Dafür kannst du Punkte auf einer Skala von 0 bis 10 vergeben. 0 für (voll einverstanden, keine Einwände, Bedenken oder Widerstände), 10 für („geht gar nicht“) und alle Werte dazwischen nach Gefühl. Gehe bitte alle Optionen nacheinander durch und bewerte jede einzeln für sich. An dieser Stelle brauchst du sie nicht untereinander zu vergleichen.
- Nun schaue auf dein Ergebnis.
Gibt es Optionen mit niedrigem Widerstand, z.B. maximal 3? Hat dich manche Bewertung vielleicht selber überrascht? Und wie stehen die Optionen jetzt im Vergleich untereinander da? Zeichnet sich schon ein „geringeres Übel“ ab?
Eine spezielle „Messlatte“
Und nun kommt ein ganz besonderer Trick, den es meines Wissens so nur beim Systemischen Konsensieren gibt: Die Passiv-Option.
- Nimm jetzt als weiteren Vorschlag noch die Passivoption dazu:
„Ich halte mich ganz raus. Die Entscheidung wird komplett ohne mich getroffen.“
(= Du gehst gar nicht wählen.)
Hier im Bild heißt die Passiv-Option anders: „Es bleibt, wie es ist.“ Aber die Funktion ist dieselbe:
Wie geht es dir damit, wie fühlt sich das an? Drücke auch das in Widerstandspunkten von 0 bis10 aus (für „völlig o.k.“ bis „geht gar nicht“).
Jetzt lade ich dich ein, nochmal deine Zahlenwerte anzuschauen und hinzuspüren: Wenn das die Passivoption ist, wie geht es dir im Vergleich dazu mit den anderen zur Verfügung stehenden Vorschlägen?
Beispiel: Für die Passivoption hast du 5 Widerstandspunkte vergeben. Einige Parteien haben in deiner Wertung besser abgeschnitten 0 bis 4 Widerstands-Punkte). Einige andere haben schlechter abgeschnitten und liegen z.B. zwischen 6 und 8 Punkten.
Die Auswahl, die besser abschneidet als die Passiv-Option, könnte deine engere Wahl sein.
Hier kannst du ganz frei entscheiden, wie du damit umgehst. Reicht es dir schon, zu wissen, mit welchen Optionen es dir relativ gut geht (besser jedenfalls als damit, gar nicht zu wählen)? Du kannst aus dieser Auswahl eine Option losen oder würfeln. Das zu tun, habe ich bei meiner eigenen Auswahl tatsächlich für einen Moment erwogen.
Mögliche Vertiefung
Falls du es weiter vertiefen magst, kannst du dich mit anderen Menschen zu Widerständen austauschen. Vielleicht haben Menschen in deiner Umgebung z. B. Erfahrung mit einem Thema, das dir wichtig ist, oder mit einer bestimmten Partei. Verändern sich die Punkte dadurch?
Was mir am Ende geholfen hat: Ich habe mich gefragt, was meine höchsten Prioritäten sind. Also was ich mir von den zukünftigen Gewählten wünsche, wofür sie sich intensiv einsetzen sollten. Das sind bei mir zwei ganz konkrete Anliegen – die ich bei zwei verschiedenen Parteien sehe. Den letzten entscheidenden Hinweis hat mir dann noch eine Weggefährtin gegeben. Aber den verrate ich hier nicht, denn den allerletzten Schritt, das Kreuzchen zu setzen und den Wahlzettel in die Urne bzw. den Briefkasten zu stecken, muss man dann schließlich doch ganz für sich selbst machen.
Ich wünsch dir eine gute Wahl!