1000 Wege und ein klares Ziel

Meine Utopie für die Welt „nach den Krisen“

Die Einladung zu einem Schreibwettbewerb Ende 2020 regten mich an, mir Gedanken zu machen:
Wie könnte eine Welt „nach den Krisen“ aussehen? Wir werden wir – oder die nach uns – leben? Welche Potentiale werden wir dank der Krisen entfaltet haben? Was wird die Gemeinschaft stärken? Welche Kultur wird in nicht ganz ferner Zukunft dafür sorgen, dass es keine Kriege mehr braucht? Wie können wir dafür die Schatten individueller und kollektiver Traumata hinter uns lassen, so dass sie nicht mehr wie bisher von Generation zu Generation unbewusst zu Wiederholung drängen? Seitdem habe ich den Text etwas weiter geführt und verfeinert. Hier ist also das Ergebnis.

Ich wage den Versuch, aus vielen existierenden Ansätzen (vgl. Verweise am Ende des Artikels) ein Gesamtbild zu bauen, das sich für mich sowohl stimmig als auch möglich anfühlt.
Eine Utopie wäre für mich eine halbe Sache ohne den Prozess dahin. Tiefe Krisen können zu echter Umkehr führen, des einzelnen Menschen, der ganzen Menschheit. In meiner Nach-Krisen-Utopie hat eine kollektive Umkehr stattgefunden.

Die Welt auf den Kopf gestellt: Sinneswandel

Diese gewandelte Gesellschaft sieht anders aus als zuvor, umgekehrt, auf den Kopf – oder besser: vom Kopf auf die Füße gestellt. Was einst herrschte, dient. Was einst ausgebeutet wurde, wird jetzt hochgeachtet. Im Gegensatz zu früher, wo geringgeschätzt oder marginalisiert wurde, was materiell nicht bezifferbar und nicht mit Geld zu kaufen war, steht dieses nun im Mittelpunkt. Fähigkeiten, denen einst keine Bedeutung beigemessen worden war, sind neuerdings gern gesehene Schüssel für Wege in eine gesunde Zukunft. Auch Vielfalt ist selbstverständlich geworden und die Menschheit weiß um ihr Potential. Kollektive Intelligenz wird gefördert und gelebt in allen ihren Facetten.

Die Menschen empfinden kaum mehr Existenzangst, dafür umso mehr tief verwurzeltes Vertrauen und Lebensfreude. Jede/r trägt im intelligenten Zusammenspiel zur Entwicklung der Gesellschaft bei. Für das Nötigste ist gesorgt. Die Lösung kollektiver Traumata wurde zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erklärt. Deshalb entwickelt jeder einzelne Mensch seine Fähigkeiten dafür immer weiter. Durch diesen Prozess wird die Gesellschaft immer gesünder, kraftvoller, lebendiger und liebevoller.

Medien berichten verantwortungsbewusst und zukunftsweisend über den Wandel. Ihre Sprache ist von Wertschätzung und Verbindung geprägt.

Reiche und Mächtige waren zu Vorreitern darin geworden, dem Leben statt dem Geld zu dienen. Die ganze Gesellschaft hatte sie bei dieser Umkehr untersützt, indem sie nach und nach mit in die Verantwortung gegangen war.

Neues Einkommen und ganzheitliche Bildung für Alle

Möglich wurde dieser Wandel durch die schrittweise globale Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zusammen mit dem Recht auf Bildung und demokratische Partizipation. Ergänzend zum traditionellen Geldsystem wurde es schrittweise über ein neues virtuelles Guthaben-System realisiert. Es ermöglicht jedem Menschen die Teilhabe und Mitarbeit an der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in einem exponentiell steigenden Anteil seiner Arbeitszeit.

Vielfältige Bildung unterstützt Menschen in ihrer Entwicklung auf allen Ebenen. Neben Grundfertigkeiten lernt jeder Mensch: „Ich bin wertvoll“, „Ich bin Teil der Natur“ und „Ich bin ein(e) MitgestalterIn der Gesellschaft“ nach dem Vorbild von Joseph Beuys („Jeder Mensch ist ein:e Künstler:in“). Viele KünstlerInnen wirken bei diesem Lernen mit. Die schöpferische Gestaltungskraft machen sie für jeden Menschen erfahrbar. Sie helfen Brücken zu bauen, um Gegensätze zu überwinden.

Durch die neue ganzheitliche Bildung finden Menschen eine tiefe Beziehung zu sich selbst. Wesentlich für sie ist die Körpererfahrung. Sie hilft, den eigenen Körper zu lieben und sich darin zu Hause fühlen. So können Menschen aus ihrer inneren Mitte heraus konstruktiv zum Ganzen beitragen. Der altbekannte Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist von der Floskel zur Erfahrung geworden. Sie wird im täglichen Leben er-lebt. Sich selbst zu lieben ist keine Ausnahme mehr. Dadurch sind die Menschen fähig, ihre Nächsten ebenso zu lieben.

Der Anfang: Prio 1 für UN Nachhaltigkeitsziele

Dieses kollektiven Zusammenspiel begann Anfang 2021. Durch den UN-Nachhaltigkeitsbericht 2020 war endgültig klar geworden, dass die Welt mit Geld allein nicht mehr zu retten war.

Staaten übernahmen die volle Verantwortung. Mit gesetzlichen Regelungen sorgten sie dafür, dass die Nachhaltigkeitsziele mit höchster Priorität und dem entsprechenden Zeitbudget umgesetzt werden konnten. Dies betraf alle gesellschaftlichen Gruppen: Schulen, Kommunen, Unternehmen, Vereine, Familien… Jedes Kind, jeder Mensch war darüber gut informiert und konnte sich einbringen.

Dank der neuen Ausrichtung auf das Gemeinwohl aller wuchs das Vertrauen, dass in dieser Dekade alles unternommen wurde, damit sich das schon verlorene ökologische Gleichgewicht auf diesem Planeten – und damit auch die Zukunft eines jeden jungen Menschen – neu einpendeln konnte auf ein langfristig gesundes Niveau. Quasi als Nebeneffekt konnte die Gefährdung der Demokratie gelöst werden. Jeder Mensch erlebte sie von klein auf an allen Orten der Gesellschaft. Von Kindergärten und Schulen über Kommunen bis hin zu Unternehmen, überall wurde sie tagtäglich gemeinschaftlich gelebt.

Dem Leben dienen und ein Update für die Demokratie

Durch das Paradigma des Wirtschaftswachstums und das Konkurrenzprinzip auf den globalen Märkten waren Unternehmen und Organisationen stark geworden. Im neuen Geist der Kooperation setzten sie diese Stärke nun ein, um sich mit voller Kraft dem gemeinsam entwickelten neuen Ziel zu widmen: Dem Leben zu dienen – in dem Bewussstsein, selbst ein lebendiger Teil davon zu sein.

Repräsentativ geloste Räte erarbeiten regelmäßig Empfehlungen, was „dem Leben dienen“ konkret bedeuteten kann. Es gibt verschiedene Räte, die regelmäßig neu zusammengestellt werden: Bürgerräte, interdisziplinäre Wissenschaftsräte, ressortübergreifende Politikräte, Medienräte und auch Unternehmerräte. Unternehmen, Schulen und Verwaltungen bildeten Keimzellen für den integrativen und kollektiv intelligenten Relaunch (verbesserte Version) der Demokratie 2.0. Sie waren mit bei den ersten, die begannen, konsequent mit innovativen Methoden zu arbeiten, um kollektive Intelligenz, Kreativität und Gemeinsinn zutage zu fördern.

Neue Paradigmen: Vielfalt, Kreativität, Ganzheit und Vertrauen

Vielfalt wurde als wertvoll erkannt. Um sie zu achten, wurde das ENTWEDER-ODER-Prinzips vom UND-Prinzip abgelöst. Entscheidungsprozesse bekamen dadurch eine ganz neue Ausrichtung. Weil dadurch Spaltung überwunden wurde, konnte die Gesellschaft endlich aufatmen. Ein neuer Friede wurde spürbar. Ganzheit wird gelebt und ist selbstverständlicher Teil der Bildung geworden. Experten für Ganzheit und Komplexität sind hoch anerkannt, Wissenschaftler sind interdisziplinär gut vernetzt. Fachleute und KünstlerInnen tun sich zu Projekten zusammen, wo die einen ihr Fachwissen einbringen und die anderen ihre unerschöpfliche Leidenschaft für kreatives Gestalten.

Die Menschen haben gelernt, komplex zu denken. Immer mehr entwickeln sie die Fähigkeit, sich selbst, sich gegenseitig und dem Leben, dem großen Ganzen zu vertrauen und getragen von diesem Vertrauen eigenverantwortlich zu handeln. Nicht mehr Regeln und Gesetze werden vorgegeben, sondern Qualitätskriterien und -maßstäbe. Diese werden demokratisch entwickelt mit verschiedenen Kreiskultur-Methoden, so dass mit den Ergebnissen alle gut leben können. Die Qualitätsmaßstäbe wiederum orientieren sich an wesentlichen Fragen wie:

  • Erleidet niemand Schaden? Mensch, Tier, Pflanzen, Ökosysteme?
  • Beeinträchtigt es den sensiblen Regenerationsprozess, in dem sich die Erde global inzwischen befindet, oder unterstützt es ihn?
  • Dient es allen Beteiligten?
  • Geschieht es aus und mit Liebe?
  • Dient es dem lebendigen Ganzen?

Demokratie 2.0: ein Ziel, 1000 Wege

Weil die Rahmenbedingungen und das Ziel, dem Leben zu dienen, so klar sind, ist eine Vielzahl von demokratischen Wegen möglich. Die in 2020 noch oft gestellte Frage, welche Methode denn nun die richtige sei, und die damit einhergehende Hemmung, überhaupt etwas zu ändern, hatte sich damit erübrigt. Alle Methoden beinhalten die drei wesentlichen Aspekte:

  • Zuhören – tiefes Zuhören
  • Spüren – mithilfe der eigenen Resonanzfähigkeit und
  • Sprechen – aus dem Herzen sprechen.

So konnte sich auch das Parteiensystem weiterentwickeln: Aus den durch Mehrheitswahl legitimierten Parteien – einst oft vielsagend als „das geringere Übel“ bezeichnet – wurden echte Interessensvertretungen. Die Menschen lernten, mit Vielfalt umzugehen. So wurden aus den Parlamenten Gremien, in denen eine Vielzahl von Interessensvertretungen sich versammelt und gemeinsam die tragfähigsten Lösungen zu systemischen Fragestellungen entwickelt. Dabei hilft ihnen die Widerstandsabstimmung einschließlich des Vergleichs mit dem Status quo („Es bleibt, wie es ist“). Angelehnt an das früher schon entwickelte, aber selten eingesetzte Prinzip des Systemischen Konsensierens („SK-Prinzip“), wird ein neues holistisches Transformationsprinzip angewendet. Es besagt: Änderungen, insbesondere an den systemischen Rahmenbedingungen, haben nur dann eine Chance, wenn sie mehr als das Bestehende dem lebendigen Ganzen dienen.

Gemeinsam für viele Generationen

Zwischen 2020 und 2030 machten sich viele Menschen auf die Suche nach Wegen für den existenziell notwendigen gesellschaftlichen Wandel hin zu einer langfristig wirklich nachhaltigen Lebensweise. Nicht nur enkeltauglich sollte sie sein, sondern nach einem alten spirituellen Prinzip – soweit man das absehen konnte – für die nächsten 7 Generationen tragfähig. So gelang es, dass ein hoher Anspruch sich durchsetzen konnte: Der Mensch sollte der Erde nicht mehr schaden. Er sollte sie in einem besseren Zustand verlassen als er sie zu Beginn seines Lebens vorgefunden hatte.

Suchende und Wandelpioniere gab es seit Tausenden von Jahren. Neu waren die technischen Möglichkeiten zur weltweiten Vernetzung. Angetrieben durch die Corona-Krise, waren sie in rasantem Tempo weiterentwickelt worden.

Die leistungsfähige Technologie ermöglichte auch die ganzheitliche Betrachtung des komplexen globalen Entwicklungsprozesses. Dank des technischen Fortschritts gab es weltweit zugängliche Bildungsangebote für Wandel-Kompetenzen. Klar wurde, dass die Krisen nur gemeinsam nachhaltig überwunden werden konnten. So wurde der Leitgedanke der UN-Nachhaltigkeitsziele, niemanden zurückzulassen, tatsächlich umsetzbar.

Neues Verständnis: Gesellschaft und Mensch-Natur-Beziehung

Die Corona-Krise hatte erstmals für ein kollektives Innehalten gesorgt. Die ganze Menschheit war in Windeseile von einem einzelnen Auslöser betroffen. Durch die technischen Möglichkeiten konnte das so deutlich wie nie zuvor beobachtet werden. Dank dieser Erfahrung begann ein globales Bewusstsein zu wachsen.

Wissenschaftler nutzten die besondere Chance, um verschiedene Zusammenhänge auszuwerten: Welche Wirkung haben politische Prozesse auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft? Wie kann die Menschheit als Ganzes zukunftsfähig werden? Auch der Begriff der Systemrelevanz wurde hinterfragt und nach neuen Definitionen gesucht. Dies führte zu einer grundlegenden Erkenntnis. Eine Gesellschaft, die sich als getrennt von der Natur betrachtet, ist nicht überlebensfähig. Um diese Trennung zu überwinden, wurde sogar der Begriff „Umwelt“ verworfen. Er wurde durch eine Vielzahl von neuen Begriffen ersetzt. Der Mensch selbst ist lebendiger, untrennbarer Teil dieses Ökosystems. Die neu gefundenen Bezeichnungen für das jeweilige Umfeld lassen dieses Bewusstsein erkennen,

Corona war nicht die letzte Krise. Innerhalb kürzester Zeit folgten weitere existenzielle Ereignisse mit globalen Folgen. Diese Wellen erschütterten die Weltgemeinschaft wie Geburtswehen für eine neue Ära. Rückblickend konnten die Menschen erkennen: Die Anstrengung hatte sich gelohnt. Eine neue, lebendige, nachhaltige globale Kultur mit unterschiedlichsten regionalen Ausprägungen war geboren worden.

Schlussbemerkung

Mir ist bewusst, dass dieser Artikel nur meine begrenzte Sicht wiedergibt. Ich habe – bis auf kurze Reisezeiten – bisher immer in Deutschland gelebt. Sicher haben Menschen aus anderen Kulturen andere Ideen zum Wandel und auch andere Bedürfnisse. Mein Text soll eine Anregung sein. Er soll eine Vorstellung vermitteln, was möglich ist – nicht mehr und nicht weniger. Meine Ideen basieren auf von mir und Anderen bereits praktisch erprobten Methoden. Demnach existiert ein solcher Ort noch nicht. Er ist aber auch nicht unrealistisch und im Prinzip realisierbar. Ganz im Sinne des Begriffs Utopie.

Inspirationen zu diesem Artikel:
Christian Felber (Gemeinwohl-Ökonomie)
Pioneers of Change (The Art of Hosting, Kulturwandel)
Mehr Demokratie e.V. (Bürgerräte, Bürgerbeteiligung)
Erich Visotschnig und Siegfried Schrotta (Systemisches Konsensieren = „SK“, „SK-Prinzip“)
Initiative Lebendige Demokratie (SK-Formate zur Bürgerbeteiligung)
Joseph Beuys (Die „Soziale Skulptur“)
UN-Nachhaltigkeitsbericht 2020
Prof. Pranz Ruppert (individuelles und kollektives Psychotrauma)
Thomas Hübl (Pocket Project)
Arnold Mindell und Max Schupbach (Prozessorientierte Psychologie, World Work, Deep Democracy)
Peter Levine (Somatic Experiencing, „Sprache ohne Worte“)
A. Dunemann, J. Pfahl, R. Weiser (Traumasensibles Yoga)
M. Baier, B. Hückstädt (Gradido)
Andreas Zeuch (Unternehmensdemokratie)
Maja Göpel (Unsere Welt neu denken)